Verwehungen

Ich brauch deine Vorwürfe nicht!
Ihr Ton ist scharf. Und ihre Stimme hat plötzlich einen ganz anderen Klang.
Sie muss ihn sehr gut kennen.

Draußen dämmert blau der Tag herauf. Schneeflocken treiben. Helle Flächen schälen sich allmählich aus der Dunkelheit.
Seit der Zug den Bahnhof verlassen hat, hängt sie am Handy, regelt ihr Leben mit wechselnden Geschäftspartnern.  Alle im Abteil sind informiert. Ihre Stimme ist auffallend tief, rau, nicht unsympathisch. Vermutlich ist sie nicht mehr ganz jung. Ganz sicher trägt sie Business-Grau, vielleicht ein wenig Silberschmuck. Sie spricht Hochdeutsch.

Jetzt kippt sie in einen weichen Dialekt.

Ja, sagt sie. Ja.
Ungeduld schwingt mit.
Ja sicher. Ja. Du, ich kann jetzt nicht  . . .
Ja. Ja, sicher. Ja.
Rauchige Resignation in ihrem letzten Ja.

Aus dem Handy weht der Hauch einer Männerstimme. 
Draußen zieht lautlos eine Herde dunkler Häuser vorbei.

Ja . . .  Ja. Ja . . .
Sie kennt nur noch ein einziges Wort.

Wir rauschen durch einen weihnachtlich beleuchteten Bahnhof.  Lichter flirren.
Die Männerstimme schleicht erneut durchs Abteil. Leiser Terror, der die Geräusche des Zugs verstohlen untergräbt.

Wie komme ich da hin?
Da ist sie wieder. Widerstrebend.

Die Antwort kommt in Loops.  Ein Ostinato. Eine Basslinie. Ein Sirenengesang. Sinnlos. Endlos. Unentrinnbar. Komm zu mir. Komm mit mir. Bleib bei mir. Zerschell an meinen Klippen. Strande.

Ja, tschüss, bis nachher. 
. . .
Ja, ich komme, sicher komme ich.
. . .
Ja, bis gleich dann. 

Die Stille summt nach. Die ersten Häuser fliegen vorbei. Großstadt kündigt sich an. Zeitungen rascheln, jemand räuspert sich.

Ihre Berufsstimme ertönt.
Der Workshop. Sie werde nicht rechtzeitig ankommen. Wegen des Schneetreibens habe sie umdisponieren, den Zug statt des Autos nehmen müssen. Der Zug sei nun auch verspätet. Es tue ihr leid. Sie könne es nicht ändern. Die äußeren Umstände. Leider.
Leider.

Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Wir sind genau in der Zeit. München Endstation.
Nach und nach erheben sich alle, greifen nach ihren Mänteln. Vor mir zwei Frauen.
Keine passt ins Bild.

Dieser Zug endet hier. Bitte alle aussteigen! 

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