Großvater und ich - Mein Engel

„Nachts sind alle Katzen grau“, sagte Großvater immer. Aber, er hatte nicht recht. Die Katze, die mir eben über die Füße lief, war nicht grau, sondern schwarz. Kohlrabenschwarz, schwarz wie diese sternenlose Nacht. Ich hab sie nicht gesehen, nur gespürt. Hab mit den bloßen Zehen ihr knisterndes Fell berührt. Der Schrei blieb mir im Hals stecken wie ein Brocken hartes Brot.

Mein Herz pocht noch bis in die Haarspitzen hinauf, und mein Hirn ist merkwürdig suppig, so als ob es kochen würde.

Das Vieh ließ grüne Augen blitzen, zwei Fernlichter in der Dunkelheit. Fauchte meine Füße an wie ein wilder Panther. Fuhr mit seinen Krallen über mein nacktes Schienbein. Etwas Warmes rinnt hinab. Jetzt.

Mein Schutzengel schläft. Er denkt wohl, weil ich jetzt vierzehn bin, muss er nicht mehr auf mich aufpassen. Keine Ahnung, wie er darauf kommt. Ich finde, dass ein Schutzengel das ganze Leben für uns da sein muss. Das ist schließlich seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit.

Gib zu, du machst die übliche Geste: Zeigefinger tippt an Stirn.  Soll heißen, es gibt keine Engel. Soll heißen, die spinnt mal wieder.  Fehlt nur, dass du mir den Stinkefinger zeigst.

Aber ich spinne nicht. Ich kenne den Engel, seit ich denken kann. Und Großvater hat ihn auch gesehen. Da bin ich mir sicher. Nur kann ich den nicht mehr fragen, er ist tot.  Ich bin allein mit einem Schutzengel, der keinen Bock mehr hat.

Wie aktiviert man einen pubertierenden Engel?

Ich hab genug mit mir selbst zu tun. Und meine Mutter hat genug mit sich zu tun. „Es reicht mir“, ist neuerdings ihr liebster Spruch, und ihre blauen Augen werden gewittergrau.

Aber, mal ehrlich: Der Engel und ich, wir wären für sie zwei Fliegen mit einer Klappe. Ganz sicher!

Da steht er.  Frisch aufgewacht, aber nicht frisch. Total verschwiemelt vom vielen Schlafen. Strähnige blonde Haare. Das Gesicht glänzt im Mondschein, und jeder Pickel ist eine Pestbeule.  Mädchen oder Junge? Die Frage hat mich schon so oft beschäftigt, dass sie mich langweilt. Ich schieb sie jedes Mal in die Kiste zurück, bis sie mit schöner Regelmäßigkeit wieder herausspringt. Zum Gähnen. Es würde mich aber trotzdem interessieren. Ein bisschen sieht er aus wie ein Mädchen, und dann doch wieder nicht, und dann doch wieder. Bringt mich ganz durcheinander. Falls er einen Busen hat, dann nur eine Handvoll. Im Moment ist er fast eindeutig ein pickliger Junge.  Er hat schlanke, durchsichtig weiße Füße. Und seine langen Finger fand ich schon als Kind schön.  Klavierspielerhände.

Und ein Kussmund.

Mein Blick bleibt feucht kleben. Ein Kussmund, die Mundwinkel leicht verächtlich nach unten. Volle Lippen. Grüne Augen, jetzt himmelgrau. Sie hängen auf mir. Düster. Süchtig.

Ich bin sein Problem.

Soll ich ihn küssen?
Da gibt es doch diese Froschgeschichte. Aber, was haben Frösche mit Engeln zu tun. Und ein Prinz, na ich weiß nicht.  Prinzen sind anspruchsvoll.

Er dreht sich weg und löst sich langsam in Luft auf.  Feigling.

Verpiss dich. Gerade jetzt, wo ich dich an meiner Zigarette ziehen lassen wollte.  Schau doch, ob du was Besseres findest. Ich brauch dich nicht. Wasch dich wenigstens, bevor du zurückkommst. Du stinkst ja, du Penner.

Du kommst doch wieder?

Ich zieh ein letztes Mal an der Zigarette. Begrabe den Stummel mit dem großen Zeh in der feuchten Erde und schleich mich, zurück ins Haus. Als ich ins Bett steigen will, stolpere ich über eine unförmig graue Masse. Es ist mein Engel, zusammengerollt auf dem Bettvorleger. Er schnarcht leise. Penner.

Großvater fehlt mir. Er hat die Welt zurecht gerückt. Hat ihre Löcher für mich geflickt.





6 Kommentare:

Blumenfreund hat gesagt…

14 Jahre, schwere Zeit, zerissen sein, die Welt gerät manchmal aus den Fugen. Manchmal verstehst Du sie nicht, fühlst Dich verlassen. Hast Du es so empfunden?? Schade. Für mich war die Zeit damals noch schöner, einfacher, angstfreier. Gefühle explodierten wie im Sturm.

Viele Grüße
Christine

Michael P. hat gesagt…

Erst die schlechte, dann die gute Nachricht?

Gut...

Das einzige, was mir aufstößt, ist die Busensache. Eine Handvoll ist gar nicht mal wenig - daher täte ich hier einen anderen Vergleich, ein anderes Maß wählen.

Davon abgesehen...
Tja, du weißt ich mag deine Geschichten. Diese hier ist besonders. Sie kombiniert die Erinnerungen an deinen Opa mit einem Teil der Sprache in der du die Erna gerne reden lässt.

Das ist neu - und das ist gut.

Ich glaube - nein, ich bin mir sicher - dies ist bisher meine liebste deiner Geschichten.

Vielen Dank dafür.

herbst.zeitlosen hat gesagt…

Danke euch beiden. Tja, einen solchen Großvater hätte ich mir wohl gewünscht. Es gab ihn so nicht. Er setzt sich, bis zu einem gewissen Grad, aus verschiedenen Männern meiner Familie zusammen.Ich hab sie alle geliebt.
Im Leben gibt es u. U. mehrere "Pubertäten", Aufbrüche, zerrissene Zeiten, immer wieder. Meine Jugend empfand ich eher als schwierig. Es gab Todesfälle, schwere Krankheiten und natürlich Liebeswirren ...
Spätere "Pubertäten" können spannend sein. Und vielleicht fällt man (Erna) im höheren Alter nochmals in den Aufruhr und die Einsamkeit der Jugend zurück.

Elsa Rieger hat gesagt…

Das ist so so so schön!

Begeisterte Grüße
ELsa

isabella kramer - veredit hat gesagt…

ich bin wieder einmal versunken in deiner geschichten welt, das ist genau die art von geschichten, so wie du schreibst und deine figuren in sekundenschnelle lebendig und fühlbar werden lässt, die ich über alles liebe.

also die handvoll fand ich nun gar nicht so störend, allerdings ob man wirklich mit vierzehn das als maß für wenig angesehen hat, ich kann mich nicht mehr so gut erinnern, nur daran, dass gerade diese maßeinheit von den "großen" für wenig damals gern benutzt wurde.

eines ist sonnenklar - ich bin dein fan !!

und jetzt wirklich - gute nacht!

isabella

Wildgooseman hat gesagt…

Du- den Engel kenne ich auch!
Das ist der, wegen dem ich meine Flügel haben wollte.
Leider hüpfte er dann über unergründliche Wiesen davon, direkt meinem Storch vor die Füsse.
Und der hielt ihn dann für einen Frosch ...
Liebe Grüße von
Poetikon