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nachklingend
nacht
variationen

tönung
mit zartem strich
morgen

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Vier Weibs-Bilder II

Die Königin von nebenan, das rote Haar um die Schultern gelegt wie ein Purpurmantel. Eiliges Klacken hoher Absätze verflüchtigt sich die Straße entlang in Richtung Supermarkt. Ein Duftschleier fegt den Gehsteig leer. 

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Ein Granitblock. Sie thront im engen Gang des Supermarkts. Sie blockiert den Ausstieg im Bus. Ihre Rüstung ist glanzlos. Sie walzt jeden nieder, der nicht ausweicht. Ihr Lachen bringt mächtige Brüste zum Beben. In der Luft erste Anzeichen eines Gewitters.

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Ihre Lippen bewegen sich pausenlos, formen unhörbare Worte. Sie wendet sich einer Begleiterin zu. Aus ihrem Mund quillt unvermittelt ein Strom fremdartiger Laute. Die Begleiterin nickt stumm. Der Wortstrom versiegt allmählich und dümpelt im Stillen endlos weiter.

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Und SIE möchte ich zu gern beschreiben. Und kann es nicht, weil an ihr nichts Auffälliges ist. Nirgendwo kann ich meinen Haken einschlagen. Noch nicht einmal ihre schwarze Haut ist der Rede wert. Sie ruht in sich. Vollkommen.



du und ich


da bist du und
da bin ich
wir könnten es
gemeinsam schaffen
bis zum Winter

die Schwalben
der Sommer
schon wieder
werden lange Tage
langsam kürzer

da bist du und
da bin ich
wir beide könnten
uns die Hände wärmen
wenn es Herbst wird

wir könnten
unser Feuer schüren


Foto: Katrin Schäflein www.picturepilot.de

erste Erinnerung

Großmutter liegt im Bett und will nicht mehr aufstehen.

Sie liegt einfach da, so bleich, so dünn, so klein und allein, ein Vögelchen im Nest. Nur ihr Kopf ist zu sehen, und ihre Hände ruhen wie zwei wohlerzogene Kinder nebeneinander auf dem Deckbett. Dicke blaue Adern schlängeln sich über die Handrücken. Die Hände sind aus durchsichtig weißem Porzellan. Ihre Haut fühlt sich an wie hauchzartes Papier. Mein Zeigefinger schiebt die weichen  Hautfalten ein wenig hin und her. Hin und Her. Hin und her.

Großmutter hat die Augen geschlossen und atmet schwer. Die Härchen in den Nasenhöhlen bewegen sich sanft. Plötzlich röchelt sie und wacht auf. Ein zittrig-hoher Singsang schwebt aus ihrem Mund. Ihr milchiger Blick schaut über meinen Kopf hinweg in die Ferne. Ich tupfe mit dem feuchten Tuch über ihre rissigen Lippen. Großmutters durchscheinende Lider fallen wieder zu.
Unter den Augen liegen tiefe Himmelsschatten. Ihre Lippen bewegen sich stumm, als ob sie etwas suchten. Sie suchen und suchen. In meinem Kopf drehen sich tausend kleine Rädchen heiß. Meine Augen bleiben hängen an diesen hilflos tastenden Lippen. Meine Finger krabbeln in die Schürzentasche und holen den Schnuller heraus. Vorsichtig schieben sie ihn in den Spalt zwischen Großmutters Lippen. Gierig schnappt der Mund zu und saugt den Gummi schmatzend ein. Plopp, spuckt er den Schnuller wieder aus.

Ich gebe nicht auf. Hinein, heraus, hinein, heraus. 

Plötzlich reißt eine grobe Hand den Schnuller aus Großmutters Mund. Der Mund verzieht sich zu einer weinerlichen Grimasse. Die Lippen tasten unruhig weiter. 

Die Welt hält den Atem an. 
                                                Die Kuckucksuhr tickt laut. 
                                                                                                Die Welt holt wieder Luft.

Ich lande unsanft auf dem Küchentisch, und meine Augen folgen dem Flug des Schnullers durch die offene Ofentür hinein in die lodernden Flammen.

Es zischt.
Das eiserne Herdtier verschlingt ihn.
Rasend.
Goldene Funken sprühen.
Die Ofentür kracht zu.
Der Riegel rastet ein.

Über Mutters Wangen rollen lautlos die Tränen.

Jeannette Frei, Lebenstuch 2012 www.jeannettefrei.de



leben

himmlisch schön / verdammt kurz

~

life

like heaven / damned short


walking bass

voller Geigen war der Himmel
früher / heute hängt er voller
Bratschen / nimm dich in Acht
vor den Bässen / sie gehen
besonders tief unter die Haut

an das Kind

Jeannette Frei: Lebenstuch 2012 www.jeannettefrei.de



































und sollte ich dich verlieren
dich wieder finden dann
nach langer Zeit /
so wollte ich dich hüllen in
mein letztes Hemd das meiner Haut
am nächsten dich wie einen Säugling
an meine Brust geschmiegt
im Rhythmus meines Herzschlags
stillen / uns wiegen und
wir würden auferstehen

mississippi

windstille leinen
auf dem hof ein weidenkorb
und raue hände ruhen
in der hitze schoß
es brüten träg
die satten stunden
am breiten braunen fluss
der blues / südwärts
in weiten weißen feldern
schlafloser nächte sirren
fernes loses bellen
kreuzwege schmelzen
unterm buttermond
am trägen braunen fluss
der blues

crossroads blues

thinking of you

 .

I'm thinking of you ...
I'm thinking of you ...
I'm thinking of you ...

I'm thinking of you
no more



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09.11. (Post Nr. 333)

Mein Großvater hatte am selben Tag Geburtstag wie ich.

Ich habe es eben entdeckt, rein zufällig. Ähnlich wie Kolumbus über Amerika stolperte, stolperte mein Blick in Großvaters Geburtsdatum auf unserem Familiengrabstein.
Das Datum ist darin eingemeißelt seit 38 Jahren. Ich habe das Grab regelmäßig besucht. Das gibt mir zu denken.

Ein Datum, besetzt von Geschichte und Geschichten. Viel war los am 09.11. Und unter anderem waren wir beide los, Großvater und ich. Er 66 Jahre früher, ich erst ab 55 -  Schnapszahlen! Wer von uns beiden trank Schnaps? Er natürlich.Wer zog in den Krieg und erlebte Geschichte am eigenen Leib. Auch er. Zu mir kam Geschichte nur in Form von Erzählungen.

Zu denken geben mir aber nicht die Geschichtsträchtigkeit des Datums und auch nicht die Schnapszahlen. Zu denken gibt mir meine Vergesslichkeit. Vom Schnaps rührt sie nicht her, den rühr ich nicht an.

Warum weiß ich nicht mehr, dass Großvater und ich am selben Tag Geburtstag feierten? Wusste ich es früher? Ich muss es gewusst haben. Warum weiß ich es heute nicht mehr? Wie funktioniert eine Erinnerung, ein Gedächtnis? Was behält es, was nicht, warum hat mein Gedächtnis in diesem Punkt versagt? Fand es diesen Zufall nicht merkenswert? Warum verliert mein Gedächtnis etwas, das ich für bemerkenswert halte, wenn ich es wieder finde? Bilden wir nicht eine Einheit, sind wir nicht sozusagen ein Paar? Gehören wir nicht zusammen? Macht es sich selbstständig, will es frei sein, will es mich betrügen, mich lächerlich machen, mich vorführen, mich strafen für irgend etwas, was ich jemals getan habe und auch nicht mehr weiß? Was weiß ich eigentlich von ihm, dem Gedächtnis, was weiß ich von mir? Was weiß ich von Großvater, was weiß ich überhaupt?

Ich kenne mich nicht mehr aus und nicht mehr ein. Vielleicht wäre jetzt doch ein Schnaps gut.

Hat er jemals daran gedacht, dass wir beide am selben Tag Geburtstag haben?
Ist es wirklich der selbe oder nur der gleiche Tag?

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Einfach verschwunden.
Und selbst die Erinnerung
Welkt ins Verblassen.



Juni

Glühwürmchen im Gras -
in deinen Augen glimmt
ein Funke



Walderdbeeren

Jeannette Frei, Ausschnitte aus einem "Lebenstuch" 2012 www.jeannettefrei.de

Sommers Rosen

sachlich bleiben
fällt schwer ist fehl
am Platz im Paradies
wer wollte schon
so tun als sei er
unberührt so tun als ob
nichts sei wenn doch
die Sinne explodieren
im Rausch der Farben
schwelgen und der Düfte
wilde Fülle Mauern
zum Bröckeln bringt
die unzerstörbar
schienen fest gebaut
für alle Zeiten
jetzt aber
ihren Halt verlieren
im Ansturm
der Blüten

fast eine Widmung (2009)

Ricarda Huch, Der Fall Deruga

Das Buch, ein schmaler Band nur,
liegt irgendwie vertraut und leicht in meiner Hand.
Das grüne Leinen ist schon sehr  verschossen,
Die Frau darauf blickt weh, verträumt
dem Lesenden entgegen.

Ich schlag es auf, und den vergilbten Seiten
entströmt ein süßlicher Geruch, kaum fassbar,
ist weder Rauch, noch ein Parfüm, eher ein Duft.
In ihm sind alle Menschen, die es je gelesen,
verzeichnet, alle Räume, die es je bewohnt.

Mir fehlt die Widmung auf der ersten Seite.
Das Blatt  schreit förmlich nach den Zeilen.
Nur ganz am Ende ist etwas zu finden.
Klein und fein säuberlich geschrieben,
rechts oben in der Ecke eine Ziffer

… verführt zum Träumen.