Tor zur Welt

In der Bücherei prallte ich auf die ganze Welt. Ich stieß auf sie in zwei winzigen, in dunklem Holz gehaltenen Räumen. Ich konnte kaum lesen, da stand ich schon vor der Tür. Ich klopfte an, öffnete vorsichtig, trat ein, tapfer wie David im Angesicht von Goliath. Durch zwei kleine Fenster fiel die Sonne mitten in mein Gesicht. Geblendet stand ich dem Hüter der Höhle voller Kostbarkeiten gegenüber.  Sein langer Schatten streckte sich quer über den Holzboden bis direkt vor meine Füße.

Wie er mich wohl sah? Da öffnete sich die Tür und herein kam dieses schüchterne, dickliche Kind mit zwei langen Zöpfen, das augenscheinlich nichts anderes im Sinn hatte als Bücher.
Was tat er? Er nickte kurz und zog sich wieder zurück in seinen eigenen Schatten.

In dem kleinen Raum konnten wir uns jedoch kaum entfliehen. Ich nicht seinem Schatten, der vorgab nicht da zu sein, und er nicht meiner konzentrierten Präsenz, die ganz auf die Regale zur Rechten seines Pults gerichtet war. Dort standen die Kinderbücher, von denen ich jedes einzelne schon mindestens fünf Mal gelesen hatte und die ich jetzt zum sechsten Mal in Angriff nahm, immer in der Hoffnung noch etwas Neues zu entdecken.

Es kam vor, dass eine kleine, bunte Welt klammheimlich hinter meinem Bett verschwunden war, dass die Wollmäuse darin spielten und sie nie mehr ans Tageslicht kam. Die Peinlichkeit der Beichte brachte mich jedes Mal fast um. Nur dann wechselten wir notgedrungen ein paar Worte miteinander, der Bibliothekar und ich.

Als ich auch noch sämtliche Erzählungen von Karl May verschlungen hatte,  als alles, aber auch wirklich alles leer gelesen war, wuchsen mir lange, bewegliche Stielaugen am Hinterkopf, die gierig in den zweiten Raum voller Bücher nur für Erwachsene schielten. Es war ein glücklicher Zufall, dass wir in eine größere Stadt zogen, mit einer moderneren Bibliothek.

Ich marschierte direkt in die Erwachsenenabteilung, hinein in Charles Dickens' turbulente Welt, und tauchte ab für viele Monate.

In Stuttgart wird heute die Bibliothek 21 eingeweiht. Das Äußere des Baus hat schon für Diskussionen gesorgt. Ich bin gespannt auf sein Innenleben.


Bibliothek am Mailänder Platz, Stuttgart
Foto: Wikimedia (Chris Stuggi/PD)

1 Kommentar:

Herr Oter hat gesagt…

Eine tolle Erinnerung, herrlich erzählt.
Ganz nach meinem Geschmack.

Zudem liebe ich Bibliotheken, je älter, kleiner, lieblicher oder ausgefallener – desto lieber.
Aber sie verwinden immer mehr, weichen den Modernen, welche auch ihre Vorteile haben, da sie meistens gut sortiert sind.
Trotzdem ein "alter" belesener Bibliothekar ist durch nichts zu ersetzen.

Liebe Grüsse und ein spannendes Wochenende